Einblick
Der blinde Fleck: Wer wirklich fehlt, wenn vom Fachkräftemangel die Rede ist
Was passiert, wenn die Kantine kein Personal mehr hat – aber die IT-Abteilung doppelt besetzt ist? Auch wenn das Thema Arbeitskräftemangel regelmäßig durch die Nachrichten geistert[1], Expertinnen und Experten warnen[2], die Politik mahnt und Unternehmen nach Lösungen suchen[3] – Fakt ist, dass in Deutschland bis 2035 rund 3,5 Millionen Erwerbstätige fehlen dürften. Das zeigen aktuelle Statistiken zum Arbeitskräftemangel des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB).[4] Und dennoch: „Viele Unternehmen denken aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen Lage, es gäbe keinen Fachkräftemangel“, zitiert das Handelsblatt Anna Lüttgen vom Personaldienstleister Hays. Wird also nicht genau hingesehen?
Vielleicht kreist die Diskussion auch zu sehr um qualifizierte Fachkräfte und Wissensarbeitskräfte. Denn wenn vom Arbeitskräftemangel die Rede ist, denken viele an IT-Spezialisten, Ingenieure oder Pflegefachkräfte. Doch Personalengpässe treffen nicht nur die hochqualifizierten oder „sichtbaren“ Berufe. Keine Logistikkette funktioniert ohne Kommissioniererinnen, kein Pflegeheim ohne Pflegehilfskräfte, kein Supermarkt ohne Regalauffüller. Eine Personalstrategie, die vorwiegend aus der Büroperspektive gedacht wird, riskiert an diesen neuralgischen Stellen ein Vakuum. Denn wenn Helferberufe oder Stellen für zyklische Arbeitskräfte – also Mitarbeitende, die vor allem einfache, sich wiederholende Tätigkeiten in Routinen leisten – unterbesetzt sind, geraten auch die anderen Arbeitsprozesse ins Stocken.
Personalengpässe in Helferberufen: Die übersehene Krise am deutschen Arbeitsmarkt
Deshalb muss eine Personalstrategie „vom Betrieb her“ gedacht werden, über alle Qualifizierungen hinweg. Das heißt konkret: gezielte Investitionen in Onboarding und Weiterbildung, flexible Arbeitsmodelle und ein klares Bekenntnis zur Attraktivität auch einfacher Tätigkeiten im Unternehmen. Denn der Arbeitskräftemangel betrifft das ganze Spektrum an Qualifikationen, auch wenn er bei Wissensarbeitenden und qualifizierten Fachkräften besonders gravierend ist.[5] Berufe, bei denen eher einfache oder repetitive Aufgaben anfallen, fallen dabei statistisch oft durch das Raster.[6]
„People at Work”-Studie: Warum HR das Potenzial nicht nutzt
Die Studie „People at Work 2025: A Global Workforce View" von ADP Research (Laden Sie die vollständige People at Work-Studie 2025 hier herunter) untersucht die Sicht und Einschätzung von Arbeitnehmenden auf der ganzen Welt. Dafür wurden 38.000 erwachsene Erwerbstätige befragt.
Arbeitsrealität: Die verbreitete Vorstellung, Arbeit sei überwiegend „remote“ oder „hybrid“, ist ein Büro-Fehlurteil. Gerade viele Helfer- und zyklische Berufe („cycle workers“) müssen zwangsläufig vor Ort stattfinden. In Deutschland arbeiten rund 60 % der Beschäftigten ausschließlich vor Ort – das entspricht einem Anstieg um 12 Prozentpunkte zum Vorjahr.
Weiterbildung als Lösung: Gerade zyklische Arbeitskräfte und Menschen mit Helfertätigkeiten berichten von mangelnder Förderung und geringen Chancen auf Weiterbildung im Job. Hier klafft eine „Entwicklungslücke“ – mit spürbaren Auswirkungen auf Bindung und Loyalität. Obwohl Mitarbeitende, die Förderung erleben (z. B. Onboarding, On-the-Job-Training), loyaler und produktiver sind, erlernen aktuell nur rund 3,8 % der Beschäftigten innerhalb ihrer ersten zwei Jahre im Unternehmen relevante neue Skills.
Investition in die Zukunft: Die Studie kommt zu dem Schluss: Arbeitgebende, die Ressourcen für berufliche Weiterbildung bereitstellen, können eine besser qualifizierte, produktivere und loyalere Belegschaft aufbauen. „Arbeitnehmende [bleiben] unabhängig von der Komplexität ihrer Arbeit eher in ihrem Unternehmen, wenn sie berufliche Weiterbildungen in Anspruch nehmen können – und das verringert letztendlich die hohen Kosten der Fluktuation in der Belegschaft”, schreiben die Studienautoren.
Kluft zwischen Wissensarbeit und zyklischer Arbeit: Arbeitgebende investieren laut ADP-Befragung vor allem in Wissensarbeitskräfte („knowledge workers“) und qualifizierte Arbeitskräfte („skilled workers“). Weniger Ressourcen kommen hingegen jenen zugute, die einfache, sich wiederholende Tätigkeiten verrichten – etwa in Logistik, Gastronomie oder Produktion. Nicht nur fehlt oft strukturiertes Training, auch an Vorbildern mangelt es: Karrierepfade, die aufzeigen, wie man sich aus einfachen Positionen heraus entwickeln kann, sind selten sichtbar. Kein Wunder also, dass sich nur 13 % der Frauen bzw. 18 % der Männer „skills ready“ für den nächsten Schritt fühlen.
Polyworking – Wenn ein Gehalt nicht mehr ausreicht: Viele Mehrfachbeschäftigte, vor allem in Helfer- und Zyklus-Berufen, erzielen trotz zwei oder mehr Jobs kaum finanziellen Spielraum. Ein Hauptgrund: niedrige Löhne. Sie reichen oft nicht aus, um steigende Lebenshaltungskosten auszugleichen. Der Trend zeigt, dass besonders in unteren Einkommensgruppen und bei jüngeren Generationen Nebenjobs zur Normalität werden. Trotzdem gelingt es vielen nicht, wirtschaftliche Sicherheit zu erreichen – auch, weil Aufstiegschancen fehlen. Die klassische HR-Strategie muss diese Lebensrealität anerkennen und neue Wege für nachhaltige Mitarbeiterbindung finden.
Perspektivwechsel: So kann HR die Kluft zwischen der „Büroperspektive“ und den oft übersehenen Engpässen an der Basis adressieren.
- Bessere Bezahlung für zyklische Arbeitskräfte;
- Entwicklung von zukunftsfähigen Karriere- und Qualifizierungsangeboten;
- Flexible, planbare Arbeitszeitmodelle, die nicht zu Überlastung führen;
- Maßnahmen zur sozialen Absicherung bei Mehrfachbeschäftigung.
Fazit: Unternehmen tun gut daran, ihren Beschäftigten flexible Lösungen anzubieten. Noch sinkt die Bereitschaft, in die Weiterbildung zu investieren, nach dem Level der Angestellten. Dadurch bleibt das Potenzial vieler Menschen ungenutzt. Die Studie von ADP Research unterstreicht, dass engagierte Arbeitnehmende produktiver sind, seltener kündigen und generell zufriedener mit ihrem Beruf sind. Das sollte Ansporn genug sein, die Bürobrille abzunehmen und anzuerkennen, dass auch das kleinste Rädchen im System enorm wichtig sein kann – für eine erfolgreiche Personalstrategie und nachhaltige Mitarbeiterbindung.
[1] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/arbeitsmarkt/fachkraeftemangel-arbeitsmarkt-branchen-100.html
[2] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/fachkraeftemangel-deutschland-interview-100.html
[3] https://www.dihk.de/de/themen-und-positionen/fachkraefte/beschaeftigung/fachkraeftemangel-trifft-auf-strukturprobleme-127192
[4] https://www.bib.bund.de/Publikation/2025/pdf/BiB-Aktuell-3-2025.pdf
[5] https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2025/IW-Report_2025-IW-Arbeitsmarktfortschreibung-bis-2028.pdf
[6] https://statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/Statistiken/Themen-im-Fokus/Fachkraeftebedarf/Generische-Publikationen/Arbeits-und-Fachkraeftemangel-trotz-Arbeitslosigkeit.pdf